Es gehört zu den Grundannahmen der sozialwissenschaftlichen Biographieforschung, dass Lebensläufe und biographische Konstruktionen in soziale Differenz- und Machtverhältnisse eingebettet sind, diese aber auch eigensinnig mitgestalten, variieren oder gar durchkreuzen. Diese Sichtweise ist theoretisch und in empirischen Studien fundiert, die Biographien in Relation zu unterschiedlichen Ungleichheitsverhältnissen analysieren: Klassenlagen, Geschlechter- und Generationsverhältnisse, Differenzlinien entlang nationaler, ethnischer, kultureller, sprachlicher und rassistischer Konstruktionen, Dis/Ability und eine Reihe weiterer Ungleichheitsdimensionen, die durch diverse Zuschreibungspraxen, materielle Strukturen und kulturelle Ordnungen erzeugt werden. In modernen Gesellschaften ist das Bildungssystem der Ort, an dem Zugänge zu sozialen Positionen sowie eine demokratische Teilhabe am gesellschaftlichen Geschehen ermöglicht und Ungleichheiten aufgrund von ‚angeborenen’ oder ‚vererbten’ Privilegien aufgebrochen werden sollen – so zumindest die politische Idee. Dass diese, historisch betrachtet, keineswegs eingelöst wurde, sondern Bildung zugleich an der Herstellung, Aufrechterhaltung und Legitimation von Ungleichheiten beteiligt ist, belegen Sozialstrukturanalysen und zahlreiche Surveys zur Leistung der Bildungssysteme. In neueren Studien sind Ungleichheitsrisiken wie eine familiale Migrationsgeschichte, religiöse Zugehörigkeit bzw. Zuschreibung oder das Aufwachsen in Familien mit einem alleinerziehenden Elternteil sichtbar geworden, aber auch die ‚alten’ Differenzlinien wie Klassenlage und Geschlecht haben keineswegs an Relevanz verloren.

Das Thema der Jahres- und zugleich Jubiläumstagung der Sektion Biographieforschung 2016 – ‚Bildung und soziale Ungleichheiten’ – greift somit eine komplexe gesellschaftliche Problemlage auf, die in der Geschichte der Sektion Tradition hat, aber auch hochaktuell ist. Ungleichheitsforschung hat in der Soziologie wie in der Bildungswissenschaft erneut Konjunktur. Auf der Tagung wollen wir diskutieren, was Biographieforschung theoretisch und empirisch zur aktuellen Debatte um Bildung und soziale Ungleichheit(en) beitragen kann. Dabei kann die durch quantitative Sozialforschung dominierte Debatte um Bildung und Ungleichheit durch biographieanalytische Forschungen kritisch ergänzt werden; vor allem aber geht es um eigenständige theoretische Perspektiven, die sich aus biographisch-rekonstruktiven Analysen von Bildungsprozessen entwickeln lassen.

Im Rahmen der Tagung soll der Zusammenhang von Bildung, Biographie und sozialer Ungleichheit weit gefasst werden. Wir wünschen uns Beiträge, die einzelne oder mehrere der folgenden Aspekte und Spannungsverhältnisse aufgreifen und diskutieren:

› › › › Individuelle Bildungswege und Bildungserfahrungen und die Rolle von Institutionen und Professionellen im Bildungssystem bei der ‚Herstellung’ von Bildungsbiographien;

› › › › Biographien im Kontext der Bildungsinstitutionen und in außerinstitutionellen Bildungskontexten sowie in Feldern, die dem Bildungssektor angelagert sind, seine Leistungen ergänzen und seine Probleme kompensieren sollen, wie die Bildungsberatung oder die Soziale Arbeit;

› › › › Bildungserfahrungen und -verläufe im Kontext unterschiedlicher gesellschaftlicher Differenz- und Ungleichheitsordnungen (in nationaler und transnationaler Perspektive) sowie deren intersektionaler Verflechtung;

› › › › theoretische Positionen und methodologische und methodische Fragen einer biographieorientierten Bildungsforschung;

› › › › die Kombination einer biographiewissenschaftlichen Forschungsperspektive mit anderen theoretischen und methodischen Ansätzen (z.B. Ethnographie, Diskursanalyse, Habitusanalyse).

Folgende Fragen sollen zur Einreichung von Beiträgen anregen:

› › › › Wie gestalten sich Bildungswege angesichts sozialer Ungleichheitsverhältnisse? Welche Handlungsspielräume und Grenzen der Gestaltung lassen sich in Biographien rekonstruieren?

› › › › Wie sind Bildungsinstitutionen und pädagogische Praxen an der ‚Herstellung’ von Biographien beteiligt? Inwiefern tragen sie zum Aufbrechen oder zur Reproduktion sozialer Ungleichheit bei? Wo zeigen sich Widersprüchlichkeiten in Bildungsprozessen und Biographien und wie sind diese analytisch zu fassen?

› › › › Welche Rolle spielen die ‚klassischen’ Ungleichheitsdimensionen Klassen- und Geschlechtszugehörigkeit im Bildungssystem? Wie werden sie im Rahmen von Biographien (re-)produziert? Wie sind sie mit Bedingungen der Migrationsgesellschaft und anderen Ungleichheitsdimensionen verschränkt?

› › › › Wie können transnationale Bildungsbiographien im Zeitalter der Globalisierung adäquat mit biographischen Ansätzen erforscht werden? Was sind die aktuellen Herausforderungen und Probleme einer transnational ausgerichteten qualitativ-rekonstruktiven Bildungsforschung? Wie können transnationale Bildungsbiographien im Anschluss an postkoloniale Theorieperspektiven theoretisch konzipiert und empirisch rekonstruiert werden?

› › › › Wie lassen sich biographietheoretische Ansätze und rekonstruktive Forschungsmethodologien mit dem Konzept der Intersektionalität verbinden?

› › › › Welchen Beitrag kann eine rekonstruktive Biographieforschung für die empirische Bildungsforschung leisten? Welche methodischen Ansätze sind ertragreich? Welche (neuen) Perspektiven auf Bildung, welche Gegenstandskonstruktionen lassen sich aus der Biographieforschung entwickeln?

› › › › Wie können Bildungsprozesse aus der Perspektive der Biographieforschung theoretisch konzipiert werden? Wie werden sie in die Analyse gesellschaftlicher Ungleichheit eingebettet?

Mit der Tagung feiern wir das 30-jährige Bestehen der Sektion Biographieforschung in der DGS. Wer zu diesem Jubiläum etwas beitragen möchte (z.B. einen Vortrag zur Geschichte der Sektion, Anekdoten, Bilder, Dokumente…), ist herzlich eingeladen, mit den Veranstalterinnen Kontakt aufzunehmen.

Die Tagung wird in Kooperation mit dem Vorstand der Sektion Biographieforschung veranstaltet.